Liebe Gemeinde,
dem Anlass entsprechend – es wird sie nicht überraschen – möchte ich heute über das Altwerden sprechen und darüber, wie wir damit umgehen, zu altern.
Das Thema hat zwei Seiten: das Altwerden im allgemeinen und das eigene Altwerden. Und damit denken wir über das Leben schlechthin nach; denn das Altwerden ist eine so elementare Wirklichkeit im Leben eines jeden Menschen, dass man sein Leben nicht gestalten kann, ohne das Altwerden ernst zu nehmen. Die Tatsache, dass man älter wird, und irgendwann nicht mehr älter werden wird, bestimmt jedes Nachdenken über das Leben. Es wird sie auch nicht wundern: Über das Altwerden – dieses elementare Thema – steht in der Bibel eine ganze Menge. Zwei gegensätzliche Aussagen möchte ich herausgreifen und darüber sprechen, wie unser Leben immer zwischen diesen beiden Polen steht.
Die erste Aussage steht im 92. Psalm: „…Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen.“ Und die andere im Buch Prediger in Kapitel 12. Dort heißt es: „Denke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, bevor die bösen Tage kommen und die Jahre sich einstellen, von denen du sagen wirst: Keine Freude habe ich daran.“
Altwerden ist ein natürlicher Prozess, der uns ständig begleitet. Ein paar Jahre lang ist damit der Zugewinn von Möglichkeiten verbunden: Man lernt laufen, man lernt sprechen, man bekommt, Haare und Zähne und Kräfte. Irgendwann erkennt man, dass die Olympiasieger alle jünger sind, als man selber. Irgendwann entdeckt man die ersten grauen Haare und ein paar Falten an Stellen, wo man sie bisher nicht hatte. Irgendwann kippt das Ganze vom Hinzugewinnen um, in ein Verlieren. Man verliert Fähigkeiten, man verliert Haare und Zähne und Kräfte. Man muss sich einschränken, weil man manches nicht mehr schafft. Körperliche Beschwerden und Schwächen bestimmen das Leben immer mehr. Man muss mit Verlusten leben. Es sind Veränderungen, die einem nicht gefallen. Manch einer, erlebt dies als Zeit, an der er keine Freude hat. Diese Verluste gehören elementar zum Leben. Trotzdem ist das nicht alle, was das Alter ausmacht. In unserer Gesellschaft wurde Alter einige Zeit nur unter dem Gesichtspunkt „Last“ oder Störfall gesehen. Inzwischen wird ein anderes Bild vom Alter gezeichnet: Im Vordergrund steht der rüstige, unternehmungslustige Senior, der sein Vermögen gemacht und abgesichert hat und der nun den Ruhestand in vollen Zügen genießt. Man hat die Wirtschaftskraft der Senioren entdeckt und die Bedeutung der Senioren für das soziale Miteinander. Senioren leisten schon heute sehr viel ehrenamtliche Arbeit und entlasten die nächste Generation von familiären Aufgaben. Die Sicht des Alters hat sich gewandelt. Man sieht auch die Werte des Altseins wieder. Wenn auch durch die rasante Entwicklung der Technik, die früher erworbenen Kenntnisse meist nicht mehr zählen, entdeckt man doch auch wieder den Wert von Erfahrung. Aus der alten Sicht, wo es hieß „alt und weise“, wurde „alt und entbehrlich“. Heute heißt das Motto eher wieder „alt und nützlich“. Durch den medizinischen Fortschritt ist das Modell des agilen, rüstigen, unternehmungslustigen älteren Menschen sicher häufiger anzutreffen als früher. Man darf aber bei solchen Bildern vom Alter die andere Seite nicht vergessen. Diese andere Seite ist Gebrechlichkeit, Einsamkeit und Leid.
Alter ist weder Krisenfall noch Belle Epoque des Lebens. Es gilt, das Alter weder schön zu reden, noch es zu verdrängen. Wo uns die, dank finanzieller Absicherung, tatendurstigen Senioren gezeigt werden, die, endlich von Arbeit befreit, das Leben in vollen Zügen genießen, da muss man sich klar machen, dass über diesem Genießen das Damoklesschwert des „noch“ schwebt. „Noch“ können wir, dies und das tun, „noch“ schaff ich das. „Noch“ bin ich gesund. Die Kunst des Lebens kann es aber nicht sein, dieses „noch“ möglichst lange auszudehnen. Die Kunst ist es, mit dem „nicht mehr“ umzugehen. Denn aus allem „noch“ wird „nicht mehr.“
Man kann es auch mit einem biblischen Wort sagen: Die Kunst ist es, lebenssatt zu werden. Der Psychiater Viktor Frankl hat einmal gesagt: „Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit, was er übersieht, sind die vollen Scheunen der Vergangenheit.“ Das ist auch das Alter: Blick auf Erreichtes, Geleistetes, Erfahrenes, der Blick auf zuteilgewordene Gnade, auf alles Gute, das einem widerfahren ist. Zurückzublicken und zu sehen: Es war nicht einfach abgelaufene Zeit. Die Kunst ist es, alt zu sein und sagen zu können, „Es war gut. Jetzt geht vieles nicht mehr, aber das ist in Ordnung. Mein Leben war erfüllend. Ich muss nicht alles noch nachholen.“ Wenn sie gut gegessen haben, wenn sie satt sind, haben sie kein Verlangen nach weiterem Essen. Nicht dass sie das Essen dann nicht mehr schätzen würden. Sie schätzen es, und brauchen es doch nicht mehr, sie sind ja satt. Satt und zufrieden hängen zusammen. Es ist gut, aber mehr brauche ich nicht. Wer nicht satt ist, ist ruhelos, auf der Suche nach mehr. Er ist unzufrieden. So verstehe ich auch den Ausdruck „lebenssatt“. Wer lebenssatt ist, ist zufrieden mit dem, was war. Er kann sagen: Das war mein Leben und es war gut so. Er muss nichts nachholen. Er kann loslassen. Sie merken, „lebenssatt“ und „lebensmüde“ sind völlig verschiedene Dinge. In der Bibel werden übrigens durchaus Menschen lebenssatt genannt, deren Leben nicht einfach war. Die Frage ist nicht, war es leicht oder schwer, sondern war es erfüllend oder nicht. Und das rührt an tiefe Lebensfragen: Füllt mich das, was ich tue, aus? Hat das, wofür ich mich einsetze, eine Bedeutung über das jetzt hinaus? Was von dem was mich im Moment bewegt, hat noch eine Bedeutung, wenn ich 70 bin? Kommt es jemandem zugute, oder ist es nur für den Augenblick. Hat es für mich oder andere eine bleibende Bedeutung? Manch ein Leben wäre nicht erfüllend, selbst wenn es 500 Jahre dauern würde. Steht im Alter der Rückblick auf die Ernte, auf den Ertrag des Lebens? Oder steht da die Klage über das Verpasste. Meist ist das keine Frage der Lebenslänge. Ein Herbst in dem die Blätter fallen, das ist kein Grund zur Traurigkeit, ein Herbst ohne Ernte, das ist ein Grund zum Weinen. So zu leben, dass man lebenssatt wird, darauf kommt es an. Das Alter kann man nicht verhindern, aber die leeren Scheunen gilt es zu verhindern. Aber bitte verwechseln sie nicht die vollen Scheunen, von denen Viktor Frankl sprach, mit den vollen Bankkonten. Es gibt zu viele leere Leben bei vollen Konten. Nicht die Bankkonten, die Erinnerungskonten machen das Leben reich: Was habe ich bewegt, was habe ich Gutes getan, was kam Menschen zugute, wo war ich in Einklang mit meinem Schöpfer? Zwei Bibelverse habe ich am Anfang vorgelesen. Sie sagen Verschiedenes über das Alter und decken sich doch in ihrem Kern: Denke an deinen Schöpfer. Das heißt doch: Suche das Wesentliche, häng dich nicht an Vergängliches. Suche in der vergänglichen Welt, wo die bösen Jahre naturgemäß kommen, das Unvergängliche. Der andere Vers redet vom Blühen, das auch im Alter anhält. Das ist aber kein Naturgesetz, das wissen wir. Die Blüte der Jahre ist überschritten, sagen wir. Diesem Vers geht auch noch etwas voraus: Da steht: Der Gerechte wird blühen, auch wenn er alt wird. Der „Gerechte“; das ist der, der Gott vertraut, und deshalb gerecht gesprochen wird. Diese Zusage hängt mit diesem Glauben zusammen. Wer an seinen Schöpfer denkt, auf ihn vertraut und sein Leben in Verantwortung vor ihm führt, der setzt nicht auf Vergängliches, das keinen Wert hat über den Tag hinaus. Der hat Hoffnung, wenn es in diesem Leben nichts Neues mehr zu erwarten gibt. „Das Blühen im Alter“, heißt sicher nicht, dass man von den Leiden die mit dem Alter verbunden sind, verschont bleibt, aber die Perspektive, ob man lebenssatt oder unerfüllt diese Schwierigkeiten erlebt, ist eben völlig anders. In der Bibel wird das Alter nicht verklärt, es wird aber auch die Tatsache des Altwerdens nicht verdrängt. Das Alter ist normal und gehört zum Leben. Deswegen werden auch Regeln gegeben: Da heißt es: „Vor einem ergrauten Haupt sollst du aufstehen. “D. H. doch: Schlag die Erfahrungen der Alten nicht in den Wind. Wer das tut, kann von ihren vollen Scheunen profitieren. Zu diesen Regeln gehört das Gebot, die Eltern zu ehren. Da wird die Schwäche alter Menschen ernst genommen. Entgegen der Sparkassenwerbung sollen eben doch die Jungen die Alten versorgen. Der erste Generationenvertrag sozusagen. Und letztlich sollen christliche Gemeinden Leib Christi sein. D. H., sie sollen in ihrer Verschiedenartigkeit als Männer und Frauen, als Deutsche und Ausländer, als Junge und Alte, sich ergänzen und bereichern. Jugend und Alter sollen zusammenstehen und sich helfen, das Leben zu bewältigen. Ich denke, diese Regeln zu erfüllen wird umso leichter fallen, je mehr man sich dem eigenen Altwerden bewusst ist.
Amen