Liebe Gemeinde,
hätte es damals Zeitungen gegeben, dann wäre vielleicht das Folgende zu lesen gewesen:
“Aufsehen erregte gestern ein Mann in den Straßen Jerusalems. Laut rufend verschaffte er sich auf Straßen und Plätzen bei vielen Menschen Gehör. Er behauptete Gott habe ihn beauftragt, in seinem Namen zu reden. In den Ruinen rief er, die Verhältnisse würden sich völlig ändern. Alles werde wieder aufgebaut werden. Israel werde Ruhe vor seinen Feinden haben. Die Menschen sollen wieder Mut fassen, ihre Trauergewänder ablegen, und sich freuen wie in Festzeiten. Bei vielen fand er Gehör.“
Und in der Kommentarspalte hätte vielleicht gestanden: “Kein Wunder, dass seine Worte gern gehört wurden. Zu schwer, zu bedrückend sind doch für viele in unserer Stadt die Lebensverhältnisse. Zu schön klingen die Worte dieses Mannes. Es wird sich zeigen müssen, ob Wahrheit in seiner Rede liegt. Vorerst jedenfalls spricht die Wirklichkeit doch eine deutliche, eine andere Sprache.“
Als der Prophet zu den Menschen in Jerusalem sprach, waren viele bedrückt und niedergeschlagen. Die Zeit im Exil, der Gefangenschaft in Babylon war vorbei. König Kyros von Persien hatte das babylonische Reich erobert. Er hatte den Israeliten die Rückkehr erlaubt. Aber die Euphorie war schon längst verflogen. Es hatte keinen großen Aufschwung gegeben. Noch immer waren die Trümmer der einst stolzen Stadt zu sehen. Die Bewohner der umliegenden Kleinstaaten machten ihnen das Leben schwer. Was auf den Feldern wuchs, nahmen andere weg. Von Befreiung und Aufschwung war nichts zu spüren. Auch von Gottes früher gegebenen Versprechen war nichts zu sehen.
Zu diesen Menschen in Trümmern und Unfreiheit sprach der Prophet.
Menschen die vor Trümmern stehen, sahen und sehen wir immer wieder.
Wir sehen die Bilder aus den Krisengebieten dieser Welt.
Vor Trümmern stehen, das ist mehr als vor zerborstenen Häusern zu stehen.
Trümmer häufen sich auf in vielen Lebensgeschichten.
Zerbrochene Lebenspläne durch Krankheit,
durch plötzlichen Tod: Wer wüsste nicht aus seinem Lebenskreis genügend Beispiele.
Viele leben täglich mit den Trümmern zerbrochener Beziehungen.
Manche haben ein zerbrochenes Selbstbewusstsein.
Sie haben zerbrochene Erwartungen in andere Menschen.
Da sind Trümmer, all das was andere Menschen in unserem Leben zerbrochen haben die Vasen und Gläser, sondern die Hoffnungen und Träume, das Vertrauen, das wir Menschen geschenkt haben, und das missbraucht worden ist. All das, was uns vorsichtig und hart gemacht hat.
Viele Kinder können ihr Lebenshaus nicht bauen, weil die Trümmer ihres früheren Schutzraums, ihrer Familie, im Wege liegen.
Wut und Trauer füllen viele Herzen.
Und wenn wir noch ein paar Wochen warten, dann liegen uns auch die Trümmer unserer guten Vorsätze zum neuen Jahr wieder im Weg. Oder nehmen sie sich schon gar nichts mehr vor? Wissen sie schon, wie es ausgeht? Und haben sich damit abgefunden, dass sie so bleiben, wie sie sind?
Trümmer der eigenen Wünsche, für deren Verwirklichung wir zu schwach sind, pflastern doch auch unseren Weg.
Und auch das andere Beispiel, das in diesem Bibelabschnitt genannt wird, ist uns nicht fremd: Kriegsgefangene kennen wir zwar nur aus der Vergangenheit und aus den Bildern im Fernsehen.
Menschen, die gebunden sind, leben aber auch unter uns. Und während man äußere Gefangenschaft sieht, bleiben viele innere Gefangenschaften unerkannt. Und manch einer kämpft einen einsamen Kampf gegen Dinge, von denen er abhängig ist und schafft es nicht, herauszutreten und Hilfe zu suchen.
Die äußeren Trümmer sind an vielen Orten dieser Welt wieder aufgebaut worden. Gefangene können mit einem Streich frei kommen. Die inneren Trümmer, die inneren Gebundenheiten sind oft nicht so leicht zu beseitigen.
Ich weiß nicht, wo bei ihnen die ganz persönlichen Trümmer liegen, an die sie sich gewöhnt haben und im Griff welcher Abhängigkeiten sie leben, aber ich weiß, dass wir alle nicht die freien Menschen sind, die wir gern wären. Wie können wir, diese Grenzen überwinden? Wie können wir mit solchen Trümmern leben, ohne über sie zu stürzen oder von ihnen erschlagen zu werden?
Wie muss es damals gewirkt haben: “Gott wird sich euch gnädig zuwenden. Ihr werdet wieder in Frieden und Freude leben, es wird euch gut gehen; Gott wird mit euch sein.”
Hoffnung ist in den Trümmern aufgekeimt. Gegen allen Augenschein. Und dieser Wiederaufbau hat stattgefunden. Nicht von heute auf Morgen, aber es ist wieder aufwärtsgegangen. Es waren keine leeren Worte.
Allerdings muss man auch sagen, die weitergehende Verheißung, dass von Israel allen Völkern Heil zukommt, hat sich anders verwirklicht, als es hier aus diesen Worten herauszulesen ist:
Einige Jahrhunderte später, sind in einem kleinen Nest in Galiläa die Menschen in der Synagoge versammelt zum Gottesdienst: Es ist die Synagoge in Nazareth: Voll besetzt ist sie. Die Ältesten sitzen auf ihren Plätzen, die Männer vorne, die Frauen an der Seite und hinten. Der Synagogendiener legt die Schriftrolle zurecht, aus der Abschnitte vorgelesen und ausgelegt werden. Alle kennen sich. Nazareth ist nicht groß. Man weiß um die Verhältnisse in den Familien, man kennt die Entwicklungen der Kinder. In diesen Gottesdienst kommt Jesus. Jesus ist ein Kind aus dem Ort. Jeder kennt ihn, den Sohn des Josef. Aber sie kennen ihn nicht so, wie er neuerdings auftritt, als Wanderprediger, als Wundertäter. Was ist bloß aus ihm geworden? Er fällt aus der Rolle, selbst seine Brüder meinen, er sei von Sinnen.
Jetzt ist er in der Synagoge, um den Gottesdienst mitzufeiern. Lukas berichtet es so weiter: Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:
Der Geist des Herrn hat von mir Besitz ergriffen. Denn der Herr hat mich gesalbt und dadurch bevollmächtigt, den Armen gute Nachricht zu bringen. Er hat mich gesandt, den verzweifelten neuen Mut zu machen, den Gefangenen zu verkünden: Ihr seid frei! Eure Fesseln werden gelöst. Er hat mich gesandt, um das Jahr auszurufen, in dem der Herr sich gnädig seinem Volk zuwendet.
Jesus rollt das Buch wieder zusammen, gibt es dem Synagogendiener und setzt sich. Alle in der Synagoge schauen gespannt auf ihn. Und er beginnt und sagt: Heute, da ihr dieses Prophetenwort aus meinem Munde hört, ist es unter euch in Erfüllung gegangen.
Erfüllt also ist der Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja. Dieses Wort ist zum Ziel gekommen in Jesus Christus. Jesus verkörpert Gottes Zuwendung zu uns Menschen.
Was der Prophet verheißen hat, ist in Jesus Wirklichkeit geworden. Gott ist mit uns. Er kann uns in den Trümmern in der Gefangenschaft begegnen. Und er kann – mehr noch – er will uns helfen, diese Trümmer zu beseitigen. Und uns helfen, aus unseren Begrenzungen und Bindungen herauszukommen.
Wir können, wir sollen unsere Lebensscherben vor Gott ausschütten:
Die Scherben unserer eigenen Schuld: All unser Tun, worüber Gott und die Menschen sich nicht freuen konnten und was uns auf der Seele liegt. Jesus will diese Scherben beseitigen. Aber nicht nur die: Da gibt es auch all die Trümmer, die andere in unserem Leben zurückgelassen haben: die erlittene Schuld, was andere uns getan haben. Wollen wir auch das zu Jesus bringen? Nicht beschönigend – es hat mich ja gar nicht so sehr getroffen, sondern ehrlich: Mein Leben hätte anders verlaufen sollen und dies und das ist an mir versäumt worden. Das ist mit angetan worden, daran leide ich immer noch. Und wollen wir dann zulassen, dass Jesus auch diesen Menschen vergibt. Sehen, dass seine Liebe, die uns gilt, auch ihnen gilt. Und ihn bitten, dass er uns hilft zu leben, sodass diese Trümmer uns nicht mehr an der Lebensfreude hindern können?
Und ebenso können wir ihm die Bruchstücke bringen, die von unseren guten Absichten und Zielen geblieben sind. All das, was missraten ist. Vielleicht sind wir mit all dem unzufriedener, als er es ist. Vielleicht erwarten wir mehr von uns, als er von erwartet. Darf er unsere Gedanken leiten? Darf er uns trösten, wo wir leiden an dem, was wir versäumen? Darf er uns sagen, dass wir ihm nicht weniger wert sind, weil wir weniger Gelungenes vorzuzeigen haben? Darf er uns anspornen, wo wir mehr aus den Gaben machen können, die er uns gegeben hat? Darf er uns anspornen, unserer persönlichen Berufung nachzukommen, auch wenn wir das Gute das hätten tun können schon oft versäumt haben?
Wir dürfen das alles vor ihm ausbreiten: Die Weinenden will er trösten und allen Freude bringen, die traurig sind.
Wie es wohl gewirkt hat, damals in Jerusalem: All das zerstörte vor Augen. Wenig Grund, sich zu freuen, der beschwerliche Alltag, die Trümmer – und dann diese Zusagen. Wie kann man das glauben?
Wie mag es wohl gewirkt haben, als Jesus in Nazareth in der Synagoge saß und dieses Wort auf sich bezogen hat: Der, den doch alle kannten, der solange so normal gelebt hat, der soll der Retter sein?
Wie wirkt es auf uns, wenn wir hören, dass Gott uns Freude und Mut schenken will? Uns befreien will, von dem, was uns bedrückt, ob wir es selber herbeigeführt haben oder ob es uns zugefügt wurde? Glauben Sie, dass Jesus auch für die ganz eigenen Trümmer in ihrem Leben in die Welt gekommen ist? Glauben Sie, dass er auch für sie eine frohe befreite Zukunft hat? Jesus wäre nicht der Heiland der Welt, wenn er nicht auch unser persönliches Leben heilen könnte.
Für manch einen Gang durch die Trümmerfelder unseres Lebens brauchen wir jemanden, der uns hilft. Jemanden, der uns die Worte Jesu vor Augen stellt, der uns, wenn alle Hilfe weit weg scheint, uns dafür die Augen öffnet, ja der uns in Gottes Namen, sein Wort zuspricht. Vielleicht auch jemanden, der uns beisteht, wenn uns beim Anschauen der Trümmer die Tränen kommen.
In der Gemeinschaft der Christen sollen wir diese Hilfe suchen und finden!
Jesus hat gesagt, er sei die Erfüllung dieses Prophenwortes. Er hat damit gesagt, dass er Heil schaffen will im Unheil.
Nehmen sie ihn beim Wort.
Amen.